Am Sonntag, dem 19. Januar, fand im Saal des Diözesanjugendzentrums ein Treffen mit biblischem Thema statt aus Anlass des in der ganzen Weltkirche begangenen Sonntags der Heiligen Schrift. Es ging um die Frage, wann und wie festgelegt wurde, welche Schriften als Heilige Schrift gelten. Die Schriften der hebräischen Bibel wurden auf Schriftrollen geschrieben, und zwar eine Rolle für eine Schrift. (Das Modell einer solchen Schriftrolle ist auf dem Bild zu sehen.) Die Schriftrollen wurden in einem Schrein aufbewahrt. Es bestand keine Notwendigkeit, eine Reihenfolge festzulegen und auch weniger Bedarf, über die Akzeptanz einer Schrift zu entscheiden.
Die Christen bevorzugten jedoch von Anfang an die Form des Codex, also die Buchform, und da mußte natürlich festgelegt werden, welche Schriften und in welcher Reihenfolge darin enthalten sein sollten. Die frühen Christen hatten maßgeblichen Anteil daran, daß die griechische Übersetzung der hebräischen Bibel die Reihenfolge aufwies: Tora (das Gesetz Gottes), Geschichtsbücher, Weisheitsbücher und Propheten. Sie ordneten das Neue Testament nach demselben Muster an. Dem Gesetz Gottes entsprechen die Evangelien, denn das Leben, die Taten und die Lehre Jesu Christi sind für uns Christen das Gesetz des Handelns. Die Apostelgeschichte ist das einzige Geschichtsbuch im Neuen Testament. Sie berichtet über die Taten der Apostel, die im Anschluß in den Briefen selbst zu Wort kommen. Ebenso berichten die alttestamentlichen Geschichtsbücher viel über David und Salomo, die dann – zumindest der Tradition nach – in den Psalmen und den Weisheitsbüchern selbst zu den Adressaten sprechen. Am Ende stehen die Prophetenbücher. Davon gibt es im Neuen Testament wiederum nur eines, nämlich die Apokalypse. In den Schriften der Propheten des Volkes Israel ist immer wieder die Rede von dem Gesandten Gottes, der die Gottesherrschaft auf Erden verwirklichen wird. In diesem erkennen wir Christen den Messias und Gottessohn Jesus Christus. Insofern schließen die Evangelien an die Prophetenbücher an. Am Ende der Apokalypse wird ein neuer Himmel und eine neue Erde verheißen. Das schlägt den Bogen zum Buch Genesis, welches mit der Schaffung von Himmel und Erde beginnt. So schließt sich der Kreis der alt- und neutestamentlichen Bücher.
Die Parallelisierung der beiden Testamente beinhaltet die wichtige Entscheidung, daß beide zum Kanon der Heiligen Schriften gehören. Der Gott Jesus Christi ist derselbe, der Himmel und Erde erschaffen hat, der sein Volk in die Freiheit geführt hat und der es durch die Geschichte leitet. Die Ablehnung des Ersten Testaments durch Marcion wurde als Irrlehre angesehen. Ebenso verworfen wurde im Lauf der ersten vier christlichen Jahrhunderte die Konstruktion einer Evangelienharmonie, also der Versuch, alle von den Evangelisten berichteten Begebenheiten in einem Zusammenhang widerspruchsfrei darzustellen. Die anerkannten vier Evangelien bieten nicht einen heiligen Text, sondern sie beschreiben aus vier verschiedenen Perspektiven die Faszination der Person Jesu Christi. Die Darstellungen sind deshalb unterschiedlich und dürfen unterschiedlich sein. Der heilige und unverrückbare Orientierungspunkt ist nicht ein Text, sondern die lebendige Person Jesus Christus. Sein Leben, Sterben und Auferstehen sind das Gesetz Gottes für uns. Die Evangelienschriften sind gewissermaßen Übertragungen des Originals in verschiedene kulturelle Zusammenhänge. Ohne sie hätten wir wenig Möglichkeit, Jesus Christus näher kennenzulernen. Der ganz Heilige aber ist nicht ein Text, sondern ist er, unser Herr Jesus Christus in der Kraft des Heiligen Geistes, zur Ehre Gottes, des Vaters.

Dr. Imogen Tietze, Bildungsreferentin