Wir dokumentieren an dieser Stelle die Meditation von P. Timothy Radcliff OP vom Nachmittag des 10. Oktober 2024 vor der Einführung zum zweiten Teil des Grundlagendokumentes bei der Synode im Vatikan – im Wortlaut und deutscher Übersetzung.

Heute beginnen wir damit, über die Prozesse nachzudenken, durch die sich die Kirche verän-dert, über die percorsi, die wir einschlagen müssen. Der folgende merkwürdige Text kann uns helfen zu erkennen, wie dies geschieht: „Jesus verließ diesen Ort und ging in die Gegend von Tyrus und Sidon. Da kam eine kanaanäische Frau aus jener Gegend heraus und rief: ‚Erbarme dich meiner, Herr, du Sohn Davids; meine Tochter wird von einem Dämon gequält‘. Aber er antwortete ihr nicht. Da kamen seine Jünger und bedrängten ihn und sagten: Schick sie weg, denn sie schreit ständig nach uns. Er antwortete: ‚Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt worden.‘ Sie aber kam und kniete vor ihm nieder und sagte: ‚Herr, hilf mir.‘ Er antwortete: ‚Es ist nicht recht, den Kindern das Essen wegzunehmen und es den Hun-den vorzuwerfen.‘ Sie sagte: ‚Ja, Herr, aber auch die Hunde essen die Brotreste, die vom Tisch ihres Herrn fallen.‘ Jesus antwortete ihr: ‚Frau, dein Glaube ist groß! Es geschehe dir, wie du willst.‘ Und ihre Tochter wurde augenblicklich geheilt.“ (Mt 15, 21-28)

Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob Jesus unhöflich wäre, wenn er sie einen Hund nennt. Er macht nur eine Ausnahme für ihre Tochter wegen ihres persönlichen Glaubens. „Ich bin nur zu den verlorenen Schafen Israels gekommen … ja, und zu dir“.

Aber diese Begebenheit liegt zwischen der Speisung der Fünftausend, die die Judenmission symbolisiert, und der Speisung der Viertausend, die auf die Heidenmission hinweist. Jesus sagt der Frau, dass nur genug Brot für die Kinder des Hauses da war, aber ein paar Verse später wird es mehr als genug Brot für alle geben, sieben Körbe voll mit Überbleibseln. Es ist ein Moment des tiefgreifenden Wandels.

Wie konnte das geschehen? Im Mittelpunkt steht das Schweigen Jesu. „Er antwortete ihr nicht.“ Dieses Schweigen ist keine Abfuhr. Es ist das Schweigen, von dem Mutter Maria Grazia bei den Exerzitien so schön gesprochen hat. Sie sagte, dass „an der Wurzel jedes Gebets, jeder Ar-beit für Gott der stille Atem Gottes schwingt“. („Alla radice di ogni preghiera, di ogni „opera per Dio“ vibra il silenzioso Soffio di Dio.“)

In dieser Stille hört unser Herr auf die Frau und hört auf seinen Vater. Die Kirche dringt immer tiefer in das Geheimnis der göttlichen Liebe ein, indem sie sich mit tiefen Fragen beschäftigt, auf die wir keine schnellen Antworten haben. Auf dem Konzil von Jerusalem: Wie können die Heiden in die Kirche aufgenommen werden? In Nizäa: Wie können wir bestätigen, dass Jesus wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch war? In Chalcedon: Wie kann Gott wahrhaftig drei und wahrhaftig einer sein?

Unsere Aufgabe in der Synode ist es, mit schwierigen Fragen zu leben und sie nicht wie die Jünger loszuwerden. Was sind hier unsere? Die Frau kommt wegen ihrer gequälten Tochter. Sicherlich müssen wir auf die Schreie von Müttern und Vätern aus der ganzen Welt für die jungen Töchter und Söhne reagieren, die in Krieg und Armut gefangen sind. Wir dürfen unsere Ohren nicht verschließen, wie damals die Jünger.

Es gibt auch tiefe Fragen, die so vielen unserer Diskussionen zugrunde liegen. Wie können Männer und Frauen, die nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen sind, gleich und doch verschieden sein? Wir dürfen der Frage nicht ausweichen, wie die Jünger, indem wir entweder die Gleichheit oder den Unterschied leugnen. Und wie kann die Kirche die Gemeinschaft der Getauften sein, die alle gleich sind, und doch der Leib Christi, mit unterschiedlichen Rollen und Hierarchien? Dies sind tiefgreifende Fragen.

Wir dringen in das Geheimnis der göttlichen Liebe ein, indem wir mit diesen Fragen leben, über sie beten, einander zuhören und Tag und Nacht über sie nachdenken. Wie es im Psalm heißt: „Denn der Herr gibt es den Seinen im Schlaf“ (127,2). Es sei denn, das Bett stürzt ein!

In dieser Geschichte erfolgt der Durchbruch durch ein seltsames Gespräch: „Es ist nicht recht, den Kindern das Essen wegzunehmen und es den Hunden vorzuwerfen“; „Ja, Herr, aber auch die Hunde essen die Brotreste, die vom Tisch des Herrn fallen.“ Das sieht beleidigend aus. Wie konnte Jesus diese Frau und ihre Tochter als Hunde bezeichnen? Aber Matthäus hat diese Be-gebenheit aus dem Markusevangelium übernommen, wo die Frau Syrophönizierin ist. In Aschkelon wurde ein Friedhof für 700 Hunde entdeckt. Es waren kleine Hunde, die eines na-türlichen Todes gestorben waren. Es wurden kleine Statuen von Hunden gefunden. Es scheint, dass Hunde ihre besten Freunde waren, geschätzte Mitglieder ihres Haushalts. Als Dominika-ner kann ich das verstehen. Wir werden die „Hunde des Herrn“ genannt, Domini canes!

Unser Herr ist also äußerst kreativ und greift ihre Vorstellung von einem Haushalt auf, in dem Hunde einen geliebten Platz haben. Für die Juden waren Hunde unreine Tiere, die nicht ins Haus kommen durften. Sie sind draußen vor der Tür, wie diejenigen, die die Wunden des Laza-rus geleckt haben. Jesus geht auf ihre Erfahrung und ihre Sprache ein. Er übersteigt die kultu-rellen Grenzen seines Volkes. „Es geschehe euch, wie ihr wollt“. Die heilige Katharina von Si-ena sieht darin eine große Verheißung der Freiheit. Sie schreibt: „Hier offenbart Gottes gren-zenlose Güte den Schatz, den er unseren Seelen geschenkt hat, den Schatz unseres freien Wil-lens.“

Viele Menschen wünschen sich von dieser Synode ein sofortiges Ja oder Nein zu verschiede-nen Themen! Aber das ist nicht die Art und Weise, wie die Kirche in das tiefe Geheimnis der göttlichen Liebe vordringt. Wir dürfen nicht vor den schwierigen Fragen davonlaufen, wie die Jünger, die sagen: „Halt den Mund!“ Wir verweilen bei diesen Fragen in der Stille des Gebets und des gegenseitigen Zuhörens. Wir hören zu, wie jemand sagte, nicht um zu antworten, son-dern um zu lernen. Wir öffnen unsere Vorstellungskraft für neue Wege, der Haushalt Gottes zu sein, der Platz für alle hat. Andernfalls werden wir, wie wir in England sagen, nur die Stühle auf dem Schreibtisch der Titanic umstellen.

Trotz der feindseligen Aufnahme durch die Jünger bleibt die Frau. Sie gibt nicht auf und geht nicht weg. Bitte bleiben Sie, egal wie frustriert Sie von der Kirche sind. Stellen Sie weiter Fra-gen! Gemeinsam werden wir den Willen des Herrn entdecken.

Quelle: www.vaticannews.va/de